Libri prohibiti

„Auf die Frage:Was haben Sie denn da? antworte ich halbwegs scherzend: Das Gedächtnis der Nation.“

Im Herzen Europas, Jg. 12, Nr. 2/2005

„Auf die Frage:Was haben Sie denn da? antworte ich halbwegs scherzend: Das Gedächtnis der Nation.“
Jiří Gruntorád (1952) – Gründer und Leiter der Bibliothek Libri prohibiti

Nach Ende des Kalten Krieges gliederten sich die Ex-Ostblockstaaten in das Nordatlantische Bündnis (NATO) ein, und einige traten auch der Europäischen Union bei. Ihnen ist vieles gemeinsam:
die Erfahrung des realexistierenden Sozialismus und der sowjetischen Hegemonie. Die Bevölkerungen dieser Länder begegneten dieser Konstellation auf verschiedene Weise: vom bewaffneten Widerstand in den 1950er Jahren, über das Tauwetter der 1960er Jahre bis zur Herausbildung von Parallelstrukturen in den 1980er Jahren. Eine Sonderstellung unter den Satellitenstaaten nahm die Ex-Tschechoslowakei ein. Mit der Zerschlagung des Prager Frühlings durch Panzertruppen des Warschauer Paktes im August 1968 wurde die sog. „Normalisierungszeit“ eingeleitet. Im Klartext: es waren massive Säuberungen, bei denen cca. 500tsd. Mitglieder der
kommunistischen Partei aus dieser ausgeschlossen und oft auch auf ihrem Arbeitsplatz gefeuert wurden. Über 400 Schriftsteller und Publizisten bekamen Schreibverbot, ihre Bücher wurden aus
sämtlichen Bibliotheken entfernt, und sie selber mußten ihren Lebensunterhalt als Heizer und Putzmänner bestreiten. Der Schriftstellerverband mit Jaroslav Seifert an der Spitze wurde zwangsweise aufgelöst, und im Lande wurde das Biafra des Geistes zur Wirklichkeit. Dutzende Kulturzeitschriften wurden verboten, manche bildenden Künstler konnten nicht mehr ausstellen, Musiker konnten an keinen öffentlichen Darbietungen teilnehmen. Gedrosselt wurde auch das wissenschaftliche und kirchliche Leben, der nunmehrige Prager Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk, wusch Schaufenster, der nunmehrige Prager Weihbischof Václav Mal˘ arbeitete
als Heizer, bevor er wieder auf die Straße gesetzt wurde.

Samisdat

Den verbotenen Autoren blieb eine einzige Publikationsmöglichkeit übrig – der Samisdat. Im Zeitalter der perfektionierten Druckverfahren mußten sie ihre Werke mit Hilfe einer Schreibmaschine und ohlepapier in Zahl von 11-12 Kopien vervielfältigen. Diese brachten sie an ihre Freunde, von denen die Manuskripte netzartig vertrieben wurden. So fungierten komplette Verlagsmanufakturen, Untergrundverlage, die Hunderte von Büchern bester tschechischer Belletristik und eine Unmenge Übersetzungen herausbrachten. Allein in der von Ludvík Vaculík betreuten Reihe Petlice (Hinter
Schloß und Riegel), die bei weitem nicht die einzige ihrer Art war, wurden über 400 Titel ursprünglicher tschechischer Belletristik aufgelegt. Es gab u.a. Untergrundperiodika verschiedenster Ausrichtung.
Romane, Gedichtbände, Erinnerungen, sogar Kindermärchen, Hunderte von Seiten, wurden von Tippkräften Buchstabe für Buchstabe, oft einige Monate lang, abgeschrieben. Auch sie liefen Gefahr, im Gefängnis zu landen, genauso wie jeder, der die Samisdat-Produktion vervielfältigte und verbreitete. Es genügte die Absicht, auch wenn sie nicht einmal bewiesen wurde.

Repressionen

Eine junge, dreißigjährige Frau, dreifache Mutter wurde 1980 zu einjähriger Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie Samisdatbücher abschrieb. Ein fünfundfünfzigjähriger Journalist erhielt 1977 eine dreijährige
Freiheitsstrafe verurteilt, weil er den Erinnerungsband eines tschechoslowakischen Ex-Politikers in den Westen schmuggelte und ein Buch mit Interviews mit verbotenen Schriftstellern schrieb. Nach Abbüßen der Strafe wurde er aus der Heimat vertrieben. Sein vierundsechzigjähriger „Mittäter“ wurde zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Ostrauer Schriftsteller verbrachte viereinhalb
Jahre wegen Abschreibens eigener und fremder Bücher im Gefängnis. Er starb 1988 im Alter von 55 Jahren, kurz nach seiner Freilassung. Der Redakteur einer Samisdat-Kulturzeitschrift wurde für seine Herausgabe sogar zweimal eingesperrt und kam nur dank der sanften Wende frei.

Gedächtnis der Nation

Verbotene Bücher, Zeitschriften und Aufnahmen verschwanden allen Razzien zum Trotz nicht aus der Welt. Manche wanderten durch Dutzende von Händen, sind zerknittert, abgegriffen oder halb zerfallen, an anderen nagte der Zahn der Zeit kaum, sie lagen auf eine ausgeklügelteWeise versteckt. Darunter befinden sich Memoiren, Gedichtbände von Jaroslav Seifert, dem einzigen tschechischen obelpreisträger für Literatur, in viele Weltsprachen übersetzte Bücher von Bohumil Hrabal, 27 Bände des philosophischen OEuvres von Jan Patočka, der nach einem polizeilichen Verhör starb, das vollständige Dramenwerk von Václav Havel, der Roman Nineteen eighty-four von George Orwell in über zwanzig Abschriften und einigen Übersetzungen, zwei „Auflagen“ des Bestsellers Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien, jede über 900 Seiten stark, und vieles andere .

Bibliothek

Die Bibliothek Libri prohibiti, getragen durch die gemeinnützige Bürgervereinigung Společnost Libri prohibiti, ist seit Oktober 1990 der Öffentlichkeit zugänglich. In der beinahe 180köpfigen Bürgervereinigung sind z.B. die Schriftsteller Jiří Gruša, Václav Havel, Ivan Klíma und Ludvík Vaculík, der ehemalige Rektor der Karls-Universität Radim Palouš und der derzeitige tschechische Botschafter in den USA Martin Palouš vertreten. Den Vorsitz führt Ivan M. Havel, Bruder Václav Havels, der 1975-1989 eine der Samisdat-Manufakturen leitete. Die Sammlungen werden von Jiří Gruntorád verwaltet, der für Verbreitung von Samisdat-Literatur durch das kommunistische Regime für vier Jahre ins Gefängnis geworfen worden war.

Sammlungen

Den Hauptteil der Bestände bildet die Sammlung des tschechoslowakischen Samisdats. Es sind Texte, die im tschechoslowakischen inneren Exil entstanden sind, Arbeiten aus verschiedensten Gebieten (außer Literatur sind es Philosophie, Geschichte, Theologie, Politikwissenschaft und viele andere). An „Buchveröffentlichungen“ gibt es dort über 11tsd. Manche von ihnen besitzen einen hohen künstlerischen Wert, sind ausgestattet mit Graphikblättern bzw. Photographien. An Samisdat-
Zeitschriften, zumeist vollständigen Jahrgängen, gibt es dort über 300 Titel.
Eingang in die Bibliothek fanden auch Dokumente über Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen
in der Ex-Tschechoslowakei im besonderen und im Ostblock im allgemeinen. Sonderbestände stellen
Feuilletons, Petitionen, Briefe u.ä. dar. Gesondert werden auch unveröffentlichte Arbeiten und Manuskripte, Samisdat-Plakate, Flugblätter, Photos und Ausschnitte verwahrt. Zeitungs- und Zeitschriftenbestände, Flugblätter und andere gedruckte Materialien vom August 1968 dokumentieren
die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes. Erwähnung verdienen Bücher und Zeitschriften der tschechoslowakischen Legionen aus dem Ersten Weltkrieg und der tschechoslowakischen
Widerstandsbewegung im Westen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auch die ausländische Untergrundliteratur ist in der Bibliothek vertreten, etwa die polnische mit den sog. bibuly.
1993 wurde eine Mediothek ins Leben gerufen, die z.Z. mit Hunderten von Aufnahmen nonkonformistischer Musik auf im Exil herausgebrachten MC-Kassetten und Spielplatten, Tonaufnahmen
von Vorlesungen und Seminaren an der Untergrund-Universität, Rundfunkaufnahmen, Videodokumenten und Amateurfilmproduktion auf Videokassetten aufwartet.
Die Bibliothek ist montags bis donnerstags von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Die Bestände stehen der Öffentlichkeit unentgeltlich zur Verfügung, die Bibliothek bietet Standarddienstleistungen incl. Recherchen, Ablichtungen und Beratungen. Jährlich werden 30tsd. Kopien angefertigt, die Bibliothek
wird von rd. 1tsd. Interessenten besucht. Mehrsprachige Internetseiten der Bibliothek wurden im vergangenen Jahr von über 3tsd. Usern benutzt. Die Dienstleistungen der Bibliothek werden von
diversen Institutionen hierzulande wie im Ausland (Památník písemnictví , British Library in London), wissenschaftlichen Mitarbeitern, manchen Verlagen und Redaktionen, Journalisten und anderen Interessierten genutzt. Literatur für Diplomarbeiten finden dort tschechische wie ausländische
Studierende. Die Bibliothek stellt auch Leihgaben für diverse Ausstellungen herzulande wie im Ausland zur Verfügung, und trug zur Abfassung einer Reihe von Publikationen bei.

Auftrag

Angesichts der Tatsache, daß die Bibliothek Libri prohibiti kostbare und sonst landes- bzw. weltweit unzugängliche Materialien (meist elektronisch erfaßt) besitzt, behält sie ihre Sonderstellung. In ein- und derselben Arbeitsstelle lassen sich vielfältige Aspekte der in- wie ausländischen Widerstandsbewegung, des antikommunistischen Widerstandes, der alternativen Kultur und der Gegenseitigkeit von Land und Exil erforschen. Libri prohibiti profilierte sich bereits vor langem
als Einrichtung, die wohl über die landesund europaweit umfangreichsten und am besten erfaßten Sammlungen von Veröffentlichungen der Opposition hierzulande und des tschechoslowakischen Exils nach dem Zweiten Weltkrieg verfügt. Besucher, die das Glück hatten, den real existierenden
Sozialismus nicht am eigenen Leib erfahren zu haben, können sich hier in die drückende Atmosphäre polizeilicher Razzien, gerichtlicher Urteile vertiefen und den wahren Charakter des Regimes kennenlernen, das in vielem auch Kafkas Schloß übertrifft. Dies ist die wichtigste Funktion
der Bibliothek Libri prohibiti in dem demokratischen Europa, das zwar aus dem Versagen, das zur Heraufkunft des Faschismus und Nationalsozialismus führte, eine Lehre zog, aber der kommunistischen
Ideologie gegenüber ungebührliche Toleranz übt. Man kann hier Fehler und Irrtümer analysieren, die den Totalitarismus hierzulande ermöglichten, der in mancher Beziehung schlimmer war als die nazistische Ideologie. Und man braucht nicht bitter teures Lehrgeld zu zahlen.
Es ist ein kleines Wunder, daß in der Prager City bereits seit fünfzehn Jahren eine Institution tätig ist, die Dienstleistungen bietet, die von staatlicher Hand getragene Institutionen nicht zu erbringen vermögen. Mein Wunsch ist, und ich hoffe, diesen hegend, nicht allein zu sein, daß dieses Wunder seine Fortsetzung findet.

Jiří Gruntorád
Im Herzen Europas, Jg. 12, Nr. 2/2005